Im Haus, am Strand, im Leben und Geist - die Welt ist im Clean-up-Wahn. Woher kommt die neue Entsorgungskultur, und was bringt sie mit sich? Ein geordneten Überblick mit einer aufgeräumten Hauptdarstellerin: Marie Kondo.
Text: Silke Roth
Es war Anfang des Jahres 2019, als eine Japanerin plötzlich beim Streaming-Dienst Netflix aufflackerte und ganz Deutschland in die Welt von „Aufräumen mit Marie Kondo“ holte. Auf den ersten Blick eine amerikanische Show, mit echten Menschen inszeniert, die den „Wir entrümpeln“-Effekt über acht Folgen durchspielt. Ratgeber-Sendungen mit prominenten Shopping-Coaches, Fitness-Trainern oder Schuldenberatern sind ein dankbares Format. Doch die Tipps der Ordnungskaiserin Marie Kondo flimmern nicht einfach als Entertainment über den Bildschirm. Die Serie wird zum Riesenerfolg: An nur wenigen Netflix-Usern gehen die Kondoschen Tipps zur Selbststrukturieung vorbei. An regnerischen Sonntagen beschließen nun Paare, Familien und Wohngemeinschaften, den heimischen Kleiderschrank von Grund auf neu zu sortierten. Marie Kondos Aufräumstrategie ist der Ordnungsratgeber, auf den Normalsterbliche anscheinend gewartet haben. Sie dringt genau zur richtigen Zeit in die dunklen Ecken des persönlichen Umfelds, die längst nicht mehr ohne fremde Hilfe zu bewältigen sind. Unschuldig und fast ein wenig schüchtern klopft Kondo in den einzelnen Folgen an die Türen von kalifornischen Haushalten. Sauber gebügeltes Outfit, euphorisch, warmherzig und stets eine Übersetzerin an der Seite. Ihre Mission ist einfach: erst ausmisten, dann aktiv und mit geordnetem Geist neue Wege gehen.
Marie Kondo ist 34 Jahre alt und hat ihr Leben dem Chaos gewidmet. Weniger ihrem eigenen, das hatte sie bereits im Vorschulalter durchsortiert, nein, vielmehr dem von konsumgeplagten Amerikanern. Etwa einer Witwe, die es nach dem Tod ihres Mannes nicht übers Herz bringt, seine Sachen zu entrümpeln, gestressten Eltern, die ihre Beziehung und das Haus vernachlässigen, oder eines Künstlerpaares, das für den ersten Besuch der Schwiegereltern gewappnet sein möchte. Was schnell klar wird - Kondo räumt nicht nur materielle Dinge aus dem Weg. Psychologisch gräbt sie das Leben ihrer Kunden um, wühlt Konflikte auf, lässt Tränen zu und hilft. Wie sie das macht? Mit spielerischen, fast religiösen Ritualen. Beispielsweise einem Ruhemoment in dem man sich für das bedankt, was man besitzt. Für die schützenden Wände, die warmen Räumen, die Menschen, die darin leben, den Dienst, den das Kleidungsstück jeden Tag erbracht hat. Danke, ihr Socken, ihr Schuhe, du gute Haustür! Dann stellt sie klar: „Wir sortieren nicht nach Umgebung, sondern nach Kategorien.“ Phase eins betrifft die Kleidung, Phase zwei alle Bücher, Phase drei Küche, Bad und Garage, in Phase vier ist der Papierkram dran, und zuletzt geht es den sentimentalen Dingen an den Kragen. Alles muss schnell gehen: Zuerst wird ein großer Haufen gemacht, dann weggeschmissen. Sachen, die bleiben, bekommen einen ausgewählten Platz.
Was in den Kleiderschrank zurück soll, wird mit Geduld und Selbstdisziplin nach spezieller Falttechnik aufgerollt. Danach wird alles so gestapelt, dass man glaubt, man baue einen Tempel, der in sich so stabil ist, dass er niemals wieder umfallen wird. Spätestens jetzt springt man als Zuschauer auf, reißt Schubladen heraus und probiert mit zu rollen – Hosen, Socken, T-Shirts, Erinnerungsstücke. Ihre „Konmari“-Methoden, hat die Japanerin längst zur Marke gemacht. Ihre Art, Überblick und Freude in der Ordnung zu sehen, lässt sie sich teuer bezahlen. Sie lebt nicht mehr in Japan, sondern mit zwei Kindern und Ehemann in Los Angeles. Sie schult Google-Mitarbeiter, bildet Clean-up-Coaches aus und verkaufte über sieben Millionen Bücher – übrigens in 27 Sprachen, auch wenn Kondo selbst nur Japanisch und gebrochenes Englisch spricht.
Wer sich für den Unterbau des Manifests interessiert, findet Hinweise in der Netflix-Serie selbst. Ein Hauch Shintoismus weht hindurch, wenn sie Pullovern einen Geist zuspricht oder auf Bücher klopft, bevor sie entsorgt werden. Kondo selbst hat einige Jahre in einem Shinto-Schrein gearbeitet. Die japanische Religion könnte auch der Grund dafür sein, dass sie bei sentimentalen Stücken die wiederkehrende Frage stellt: „Does it spark joy?“ (zu Deutsch: „Spüren sie noch Herzklopfen oder ein bestimmtes Glücksgefühl“). Wenn der Gegenstand nichts auslöst, muss er gehen. Nach getaner Arbeit der Serien-Protagonisten sind die Müllsäcke voll und mancher Zuseher den Tränen nahe. In den USA spricht man mittlerweile sogar von einem Verb: "to kondo". Klar Schiff machen und anschließend in der Leere glücklich sein.
In einer US-Zeitschrift wurde Kondo als Zen-Version von Aristoteles beschrieben, weil sie das Glück zum Ziel des guten Leben erklärt. Doch warum passt die Sehnsucht nach dem Urzustand, den alten Werten, so gut in unsere Zeit? Warum ist Chaos der erklärte Feind? Weil die moderne Welt im Off- und Online-Modus ein nicht einsehbares Durcheinander ist. Wo früher vom kreativen Chaos gesprochen wurde, rümpfen Kreative heute die Stirn. In Agenturen dominiert die „Clean Desk Policy“. Abends wird der Schreibtisch sauber verlassen, persönliche Dinge haben hier nichts zu suchen. Kein Kaffeebecher, keine Fotogalerie, keine Handcreme. Apple-Store-Ästhetik ist das Maß aller Dinge. Nichts stört die geistigen und digitalen Ressourcen, um am nächsten Tag frische Ideen aufs Papier zu bringen.
Im minimalistischen Schweden begegnet man der Disziplin einer Marie Kondo und der neuen Nüchternheit mit einem noch radikaleren Trend: „Death Cleaning“. Autorin Margareta Magnusson schrieb in ihren Ratgebern zum ersten Mal über das Ausmisten und Ordnen, als würde man morgen sterben. Nun ist Magnusson 85 Jahre alt und hat allein deshalb Grund, darüber nachzudenken. Doch in Skandinavien findet die Methode besonders bei Menschen unter 40 Zuspruch. Das schwedische Wort „Döstädning“ steht für eine Kombination aus den Wörtern „sterben“ und „Sauberkeit“. Ansammeln von Dingen in Schubladen ist verboten. Auch wenn es morbide klingt, berichten die meisten darüber, wieviel leichter und befreiter es sich nach Döstädning lebt.
Links: Better Beach Alliance: Surflabel Reef und die internationale Surf—rider Foundation machen gemeinsame Sache. Statt Hang Loose säubern sie ihren Lieblingsspot auf Teneriffa / Rechts: Weniger ist mehr: „The Minimalists” alias Joshua Fields Millburn und Ryan Nicodemus haben nach eigenen Angaben schon mehr als 20 Millionen Menschen geholfen, mit weniger Besitz viel glücklicher zu sein. Ihr Podcast „The minimalst“ zählt zu den beliebtesten im Bereich Gesundheit.
Bewusster Verzicht und materielle Rückbesinnung sind also keine Altersfrage. Detox-Behandlungen, Clean-Eating-Gastronomie und die Verbannung von Plastik begegnen uns täglich. Milchprodukte, Fleisch und Strohhalme waren bis vor kurzem noch salonfähig. Heute lunchen Hipster in veganen Bistros, trinken Hafermilch und rühren ihren Gin Tonic mit essbaren Stäbchen. Wo früher wilde Strandpartys gefeiert wurden, sammelt man heute Plastikmüll ein. Beach Clubs waren gestern, man trifft sich diesen Sommer am Strand zu Clean-up-Aktionen. Wer seinen materiellen Besitz runterschraubt und Bedürfnisse auf das Mindeste reduziert, lebt im Luxus von morgen. Möchte man diese Entwicklung im großen Ganzen verstehen, rät es sich, sich wieder beim bekannten Streaming-Dienst umzusehen. Die Dokumentation „Minimalism: A Documentary About the Important Things“ wurde bereits 2016 gedreht und beleuchtet einprägsam Gründe und Folgen des amerikanischen Konsumverhaltens. Mehr zu besitzen, galt als Gleichung für ein besseres Leben; Status, Karriere und Geld untermauern den amerikanischen Traum. Regisseur Matt D'Avella stellt die Theorie in Frage. Dafür begleitet er die beiden bekennenden Minimalisten Joshua Fields Millburn und Ryan Nicodemus auf ihrer Reise durch die USA. Sie sind für ein Jahr auf Promotion-Tour mit ihrem Buch „Everything that remains“ (Alles, was bleibt) unterwegs – und natürlich wenig Gepäck. Während der Film zeigt, wie die beiden ihre Philosophie vor wenig Interessierten verbreiten, werden immer wieder harte Fakten eingestreut: Warum leben Industrienationen heute im größten Wohlstand und sind unzufriedener denn je? Warum bekommen wir nach acht Wochen ein schlechtes Gewissen, wenn wir uns nicht mit etwas Materiellem belohnen? Man erkennt schnell, wie sinnlos das Leben wird, wenn man sich an Besitz bindet. Nach einer Stunde und 19 Minuten möchte man als Zuschauer alles loswerden, was nicht glücklich macht. Ein großes Ziel für jeden Einzelnen, ein noch größeres für Amerika.
Unwahrscheinlich bleibt es dennoch nicht. Sollte der amerikanische Traum in den nächsten Jahren umgeschrieben werden, nehmen sich Maria Kondo und ihre Übersetzer sich dem Phänomen sicherlich an. Aber zuerst muss jeder bei sich selbst wühlen. Die Ordnung der Dinge beginnt im Kleinen.