Die holländische Gestalterin Hella Jongerius verbindet das Traditionelle mit dem Zeitgenössischen, die neuesten Technologien mit uralten Handwerkstechniken. Warum ihre Designphilosophie heute wichtiger denn je sein könnte, erzählt Sie im Gespräch.
© Laura Fiorio
Interview: Silke Roth
stilwerk: Wie beschreiben Sie den aktuellen Zeitgeist aus Sicht eines Designers?
Hella Jongerius: Wir stehen am Anfang einer industriellen Revolution. Die verschiedenen Systeme befinden sich im Umbruch, die Klimakrise ist für uns als Designer das Hauptthema, an dem wir arbeiten müssen.
stilwerk: Sie beraten seit Jahren große Einrichtungsmarken. Warum ist es so schwer, die Branche von innen heraus zu verändern?
Hella Jongerius: Die Unternehmen sollten endlich die politischen Regeln zum Klimawandel befolgen, ihren Fußabdruck verkleinern und damit aktiv handeln. Sie müssen die Produktionsmethoden ändern und auf einen kohlenstofffreien Fußabdruck hinarbeiten. 80 % der Materialien werden künftig neu entworfen, was unseren gesamten Beruf verändern wird. Die Designer stehen nicht im Mittelpunkt dieses Prozesses. Die Unternehmen müssen auf allen Ebenen innerhalb ihres Gewerbes handeln. Die Hauptaufgabe liegt beim Management und in den Entscheidungen der Vorstandsetage. Durch ein neues politisches Leitbild, mit veränderten Materialien und Produktionsprozessen, werden sich die Möglichkeiten für Designer ändern und wir werden spannende Ideen und Anwendungen entwickeln.
stilwerk: Wir sehen viele Pastellfarben und natürliche Materialien in modernen Wohnräumen. Werden wir jetzt alle zu naturverbundenen Softies in unserem Zuhause?
Hella Jongerius: Ich interessiere mich nicht für Trends.
stilwerk: Sie schwimmen gerne gegen den Strom, oder viel mehr, ihm voraus. Während die ganze Einrichtungswelt über Home-Office-Lösungen nachdachte, eröffneten Sie im Sommer 2022 im Berliner Gropius-Bau eine Ausstellung, die sich mit großen Web- und Spinninstallationen beschäftigte. Was wollten Sie damit zeigen?
Hella Jongerius: Bei einem traditionellen Handwerk wie dem Weben lernt man etwas über Materialien. Ein Handwerk reist nie allein, sondern ist Teil einer geopolitischen Agenda. Weben ist ein kulturelles Phänomen, es ist sozial, politisch, anthropologisch und metaphorisch. Weben betrifft die Webstühle, die Materialien und die Technik. Gleichermaßen ist es Handwerk, Volkskunst, Industriedesign und Kunst verbunden. Da wir ein digitales Leben führen, das immer mehr zunimmt, ein Leben, in dem alles flach und effizient ist. Wir müssen unser physisches Leben lebendig halten, indem wir die Taktilität und die Unvollkommenheit des täglichen Lebens zelebrieren, mit Materialien und Herstellungsprozessen als Mittel, um zu verstehen, wer wir sind.
stilwerk: Kann ein 3D-Webstuhl die Probleme der Designwelt von morgen lösen?
Hella Jongerius: Gewebte Strukturen sind die stärksten und leichtesten Konstruktionen, die es gibt. Daher hat das 3D-Webverfahren ein großes Potenzial, schwere und ressourcenintensive Bauweisen wie Ziegel oder Beton zu ersetzen. Es geht auch darum, mit einem Minimum an Material ein Volumen zu schaffen. Wir wollten in diesem Bereich forschen, weil in der Industrie zwar Ingenieure an dieser neuen Technologie arbeiten, aber noch keine kreative und ästhetische Hand im Spiel ist.
stilwerk: Welche Verantwortung und Herausforderungen haben Sie als Designerin, um die Welt in der Zukunft neu zu gestalten?
Hella Jongerius: Ich habe als Designerin angefangen, aber meine Arbeitsmethode ist die einer Künstlerin mit einer sozialen und politischen Agenda - als Autorin. Meine Arbeit ist immer in der aktuellen Zeit angesiedelt und spiegelt wider, was in unserer Gesellschaft geschieht und meinen Beruf in Frage stellt. Ich hinterfrage auch die Verwendung von Materialien und Produktionssystemen. Bei der Arbeit im Bereich des Industriedesigns gibt es viele Grenzen, aber jede Einschränkung ist eine neue Herausforderung, kreativ zu sein. Ich behalte meine Werte und meine eigene Agenda als Kompass bei und folge meiner eigenen Intuition. Ich wollte in der Designwelt arbeiten, um etwas Größeres zu verändern.
stilwerk: Was möchten Sie konkret tun?
Hella Jongerius: Ich will Individualität, Unvollkommenheit und Menschlichkeit in die Prozesse der standardisierten industriellen Produktion bringen. Wir müssen das kranke Verhältnis, das wir zu unserer Umwelt haben heilen, indem wir die Art und Weise, wie Objekte und Materialien hergestellt werden, ändern. Ich habe mich immer verantwortlich gefühlt und versucht, Grenzen zu überwinden.
stilwerk: Was haben Design und Menschlichkeit gemeinsam?
Hella Jongerius: Nach 30 Jahren Arbeit als Designerin fühlt es sich so an, als hätte man ein großes Wissen über Materialien und Prozesse als starke Grundlage. Meine Forschung ist immer in der Liebe zum Herstellungsprozess verwurzelt. Ein Verständnis für Rohstoffe und Farben ist mein persönlicher Ausgangspunkt. Denn ich glaube, dass in den Materialien ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis der Beziehung zwischen Mensch und Objekt und damit der kulturellen Bedeutung von Objekten liegt.
© Laura Fiorio
Das Interview führte Silke Roth und erschien erstmals im stilwerk Magazin "ReFraming" im August 2022.
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